Die Verzweiflung von Frauen auf der Flucht

Augsburger Allgemeine vom 22.11.2014, Text/Interview: Cynthia Matuszewski

Von Krieg und Gewalt sind sie in besonderem Maß bedroht. Eine Psychologin erklärt, warum trotzdem nur 30 Prozent der Asylbewerber in Augsburg weiblich sind, warum sie auch hier Angst haben – und wie wir ihnen helfen können

INTERVIEW
Fliehen Frauen aus anderen Gründen als Männer?

Ja, dazu gehören u.a. politische oder religiöse Gründe, Zwangsprostitution, Zwangsverheiratung, Genitalverstümmelung oder andere Gewalterfahrungen jeglicher Art.

Nur 30 Prozent der Flüchtlinge, die in Deutschland ankommen, sind Frauen. Ist die Flucht für sie gefährlicher?

Frauen sind auf der Flucht in besonderem Maß der Gewalt von Männern ausgeliefert. Sie sind männlichen Fluchthelfern körperlich unterlegen, verfügen häufig über weniger Geld und haben Kinder oder ältere Verwandte dabei. Das macht sie hilfloser.

Unter welchen Beschwerden leiden traumatisierte Menschen, die zu Ihnen kommen?

Schlafstörungen kommen sehr häufig vor. Viele Flüchtlinge waren nachts unterwegs und versteckten sich tagsüber. Auch die meisten Übergriffe auf Frauen, wie Vergewaltigungen, geschahen nachts. Hier angekommen können die Frauen tagsüber aktiv sein, Sprachkurse besuchen oder sich anderweitig ablenken. Aber nachts fehlt diese Ablenkung. In der Ruhe und Dunkelheit kehren Albträume und die schrecklichen Bilder im Kopf zurück.

Und die Tatsache, jetzt endlich in Sicherheit zu sein, beruhigt sie nicht?

Auf der Flucht entwickeln Menschen überlebensnotwendige Strategien. Wenn sie hier angekommen sind, in einer fremden Umgebung, auf sich allein gestellt und ohne die Sprache zu beherrschen, greifen sie auf diese Strategien zurück, selbst wenn das aus unserer Sicht in einer „sicheren“ Situation gar nicht mehr nötig ist. Damit lässt sich zum Beispiel erklären, warum viele Frauen in gemischten Asylunterkünften nachts nicht auf die Toilette gehen. Sie haben Angst, einem Mann zu begegnen. Eine solche Begegnung hätte auf der Flucht lebensgefährlich sein können.

Welche Schwierigkeiten existieren bei der Trauma-Therapie von Frauen?

Frauen sind mit ihrem Schicksal häufig allein. Ihre Religion, ihre Kultur oder ihre Scham verbieten ihnen, über traumatische Erlebnisse, beispielsweise eine Vergewaltigung, zu sprechen. Sie haben also nicht nur Furchtbares erlebt, sondern müssen damit auch noch vollkommen allein fertig werden.

Was halten Sie von ehrenamtlicher Hilfe?

Sehr viel. Aber sie ist nur sinnvoll, wenn die Helferinnen und Helfer vorher intensiv geschult werden. Denn für Laien ist die Reaktion traumatisierter Menschen oft schwer einzuordnen: Warum schreit und weint eine Frau, wenn sie das Knallen einer Tür hört? Oder warum erstarrt sie? Erfahrungen auf der Flucht wirken noch nach, selbst wenn die Frauen vermeintlich in Sicherheit sind. Ein lautes Geräusch kann beispielsweise Erinnerungen an nächtliche Überfälle wachrufen. Auch müssen wir respektieren, wenn eine Frau nicht über ihre schrecklichen Erlebnisse sprechen will oder es auch vielleicht gar nicht kann. Manchmal ist es hilfreicher, einfach nur still mit einem traumatisierten Menschen in einem behaglichen Raum zu sitzen und Tee zu trinken. Damit wird im Gehirn eine winzige Insel mit positiver Erfahrung von Ruhe und Sicherheit geschaffen.

Wie wirkt sich die Arbeit mit Trauma-Patienten auf Helferinnen und Helfer aus?

Die tagtägliche Arbeit mit traumatisierten Menschen hinterlässt auch bei deren Helferinnen und Helfern Spuren. Es kann zu einer sekundären Traumatisierung kommen. Deshalb muss man sich auch um die Institutionen und die Menschen kümmern, die mit Flüchtlingen arbeiten und sie beispielsweise mit kollegialer Beratung oder Supervision unterstützen.

Die Psychologin Prof. Andrea Kerres, geboren 1964, ist im Vorstand des Traumahilfe-Netzwerks Augsburg-Schwaben. Sie wohnt in Schmiechen (Landkreis Aichach-Friedberg) und lehrt an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München. Ein Schwerpunkt in ihrer Arbeit als niedergelassene Psychotherapeutin ist die Arbeit mit traumatisierten Menschen.

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